Das Kiefergelenk – der Schlüssel zum Motor

Klein aber OHO – warum das Kiefergelenk der Schlüssel zum Motor ist!

Ich erzähle dir sicher nichts Neues, wenn ich dir sage, dass der Motor des Pferdes hinten sitzt und wir „von hinten nach vorne“ reiten müssen… 

👉 Aber weißt du auch, dass der Schlüssel zu diesem Motor vorne im Maul sitzt?

Genau! 💡 Das Kiefergelenk hat eine enorme Auswirkung auf ganz viele Prozesse im Bewegungsablauf und vor allem auf die Hinterhandaktivität deines Pferdes!

Bereits im 16. Jahrhundert sagte der Reitmeister Salomon de la Broue:

„die vollkommene Leichtigkeit des Pferdes beginnt im Maul“

Und damals wusste man bestimmt noch nicht so viel von der Anatomie und Biomechanik des Pferdes wie heute.

Was du alles zu diesem spannenden und oft unterschätzten Gelenk wissen solltest und mit welchen einfachen Maßnahmen du die Kiefergelenke deines Pferdes locker und entspannt hältst, erfährst du in diesem Blogbeitrag.

Das erwartet dich:

  • Ein lockerer Blick auf die Anatomie & Biomechanik
    • warum das Kiefergelenk mehr drauf hat, als du denkst
  • Die Power des Kauens
    • wie das einfache Kauen die Hinterhand in Schwung bringt
  • Locker bleiben!
    • Übungen für das Kiefergelenk und wertvolle Physio-Tipps

Ein lockerer Blick auf die Anatomie & Biomechanik

Temporomandibulargelenk – ein tolles Wort 😊 Bedeutet vereinfacht ein Gelenk, welches sich aus dem Unterkieferknochen (Mandibula) und dem Schläfenbein (Os temporalis) zusammensetzt. Das Kiefergelenk, oder auch TMG.

Die Lieblingsbeschäftigung deines Pferdes in seiner Freizeit ist wahrscheinlich fressen. Und zwar mit gesenktem Kopf, in gemütlichem Tempo schlendernd, die Nase am Boden, stets auf der Suche nach dem leckersten und saftigsten Grashalm des Universums. 🪐

Das ist ein ganz schön schlaues Hobby und dient nicht nur der Nahrungsaufnahme. Durch das Kauen mit gesenktem Kopf entspannen sich die Nackenmuskeln, der Ganaschenwinkel öffnet sich, die Kiefergelenke befinden sich in der optimalen Arbeitsposition und mobilisieren sich quasi von alleine. 💪

Knochen

Das Kiefergelenk ist ein sogenanntes Walzengelenk und kann sich dreidimensional bewegen:

  • vor und zurück
  • nach rechts und nach links
  • in einer Rotation (Mahlbewegung)

👉 Senkt dein Pferd den Kopf Richtung Boden, gleitet sein Unterkiefer automatisch nach vorne. Somit stehen die Schneidezähne optimal übereinander und können problemlos all das leckere Gras und die Kräuter abzupfen. Außerdem entsteht so Platz im Kiefergelenk, um die 

👉 Mahlbewegungen (kreisende Seitwärtsbewegungen) ausführen zu können. Futter wird wie zwischen zwei Mühlsteinen auf den breiten Backenzähnen zermahlen. Dabei wird gleichzeitig Speichel aus den Speicheldrüsen produziert und landet zur Neutralisierung der Magensäure im Magen.

👉 Durch ein hohes Anheben des Kopfes wird der Unterkiefer zurückgeschoben und das Kiefergelenk „macht zu“. Kaubewegungen sind so nicht mehr möglich, dafür entsteht Zug und Spannung über den Nacken und Rücken bis in die Hinterhand hinein.

Muskeln

Das Kiefergelenk wird von 5 Kaumuskeln bewegt. Der größte ist der äußere Kaumuskel, der M. masseter. Er bildet deutlich sichtbar und breitflächig die Backen deines Pferdes. Auch der Schläfenmuskel M.  temporalis auf der Stirn deines Pferdes ist leicht zu erkennen.

Außerdem wirken von hinten alle Nackenmuskeln auf das Kiefergelenk ein, und von unten die Zungenbeinmuskulatur und die untere Halsmuskulatur

Faszien

Die Kiefergelenke stehen über Muskelketten und Faszien in direkter Verbindung mit den Kreuzdarmbeingelenken (ISG) und dem Becken.

Das erklärt, das Störungen in dem Gelenk und Verspannungen der Kaumuskulatur zu Bewegungseinschränkungen v.a. in der Hinterhand führen können! ↔️

Probiere doch mal was aus: 😀

Stelle dich gerade und locker hin. Wenn du magst, schließe die Augen. Dein Kiefer „hängt“ entspannt bei geschlossenen Lippen, sodass die Zähne keinen Kontakt miteinander haben. 

➡️ Nun bewege deinen Kopf, ohne etwas zu beeinflussen, Kinn voraus nach vorwärts-abwärts. Fühlst du wie dein Unterkiefer nach vorne gleitet?

Jetzt wiederhole die Übung mit zusammengebissenen Zähnen. Spürst du die Spannung im Nacken und wie anstrengend diese Bewegung jetzt ist?

Noch eine andere Übung:

Stelle dich wieder locker und gerade hin mit entspannt hängendem Unterkiefer und geschlossenen Lippen. 

➡️ Nun laufe los und biege nach ein paar Schritten rechts ab. Merkst du, wie dein Kopf diese Bewegung einleitet und deine Schulter und der Oberkörper dieser neuen Bewegungsrichtung folgen?

Jetzt wiederhole das ganze wieder mit zusammengebissenen Zähnen. Und?

Sicher spürst du, wie sich diese unangenehme Spannung über den Hals und deinen Rücken zieht? 

Stell dir vor, du bist dein Pferd: Wie willst du jetzt den Rücken loslassen, dich aktiv aufrichten, dich im Galopp tragen oder Seitengänge durchführen?

Die Power des Kauens

Ist das Kiefergelenk blockiert und die Kaumuskulatur verspannt…

👉 können Wendungen nicht korrekt eingeleitet werden, da der Unterkiefer seitlich blockiert

👉 ist kein lockeres „vorwärts-abwärts“ in Dehnungshaltung möglich, da der Unterkiefer nicht nach vorne gleiten kann

👉 kann es langfristig zu einer ISG-Blockade führen. Dein Pferd kann hinten keine Last mehr aufnehmen, keine Kraft aus der Hinterhand entwickeln und dadurch keinen Schwung und Schub über den Rücken nach vorne leiten. 

Auf die ISG-Blockade folgt meist recht schnell eine Problematik im Hüftgelenk, dadurch eine Fehlbelastung in Knie und Sprunggelenk und endet schließlich mit einer Überlastung des Fesselträgers.

Locker bleiben!

Was kannst du also tun?

👀 Beobachte dein Pferd. Zeigt es plötzlich Symptome wie Herausstrecken der Zunge oder legt es die Zunge übers Gebiss? Knirscht es mit den Zähnen oder schlägt mit dem Kopf? Das könnte auf Probleme im Kieferbereich hindeuten.

💡 Ein gutes Zeichen für einen entspannten Kiefer ist eine gute Speichelproduktion. Auch über das Klappern mit den Zähnen (nicht das knirschen!) kannst du dich durchaus freuen und solltest es unbedingt zulassen, speziell in höheren Lektionen.

🔎 Nimm dein Training und die Ausrüstung unter die Lupe. Erinnere die an die „Zwei-Finger-Regel“ beim Verschnallen des Nasenriemens. Auf keinen Fall darf ein zu enger Nasenriemen und Stirnriemen (!) die Kiefer- und Kaubeweglichkeit einschränken und Druck aufs Kiefergelenk ausüben! 

Auf eine weiche Reiterhand, die keine Hebelwirkung auf den Unterkieferast ausübt, achtest du ja sicher eh schon, oder? 😉👍

🦷 Hat dein Pferd Probleme mit dem Kauen beim Fressen? Kaut es nur auf einer Seite (gut zu erkennen, wenn der M. temporalis auf einer Seite deutlich stärker zu sehen ist), sehr schnell oder sehr langsam?

Du solltest mindestens einmal im Jahr die Zähne deines Pferdes von einem Pferdezahnarzt oder Dentalpraktiker kontrollieren lassen.

❓Wie fühlst du dich nach der Zahnreinigung? Also wenn ich 45 Minuten lang den Mund weit öffnen muss, sind meine Kiefergelenke danach auch richtig zäh und schmerzhaft verspannt. Deinem Pferd geht es mit dem Maulgatter nicht anders. Daher gönne deinem Pferd nach der Zahnbehandlung gerne eine Kiefer-Wellness-Einheit 🐴❤️

⚡️ Auch Stress und Überforderung wirkt sich auf die Kiefergelenke aus. Das sprichwörtliche „Zähne zusammenbeißen“ kommt bei den Pferden genauso vor wie bei uns Menschen.

🎯Unser Ziel sind also frei bewegliche Kiefergelenke und entspannte Kaumuskulatur. Das sorgt für:

  • mehr Beweglichkeit im Genick und in der Halswirbelsäule (Balancierstange!)
  • mehr Schulterfreiheit und Beweglichkeit der Vorhand
  • mehr Rückentätigkeit
  • bessere Übertragung der Schubkraft aus der Hinterhand
  • mehr Durchlässigkeit zum Genick
  • und wieder ein entspanntes Kiefergelenk

🎓 Meine Physio-Tipps:

Im Stand:

👉 Abkauübungen zur Mobilisierung des Kiefergelenks sollten unbedingt Teil deiner täglichen Routine sein.

Stelle dich dazu auf einer Seite ans Pferdemaul und schiebe sanft einen oder zwei Finger zwischen die Laden und unter die Zunge. Damit löst du einen Reflex aus und dein Pferd wird anfangen, große Kaubewegungen zu machen. Dadurch lösen sich Verspannungen im Gelenk. Bleib solange im Maul deines Pferdes, bis es deine Finger durch Kopfschütteln „rauswirft“. (ca. 30 Sekunden) Dann wechsle auf die andere Seite des Kopfes und wiederhole die Übung. 

❓Wie fühlt sich das an? Sind beide Seiten gleich beweglich? 

Achte bei dieser Übung unbedingt darauf, dass das Halfter locker genug ist und die volle Kaubewegung zulässt!

👉 Regelmäßiges Massieren des großen Kaumuskels (M. masseter) ist ebenfalls ganz leicht und Gold wert:

Stelle dich auch dazu seitlich an dein Pferd und massiere mit der flachen Hand (bzw. mit dem vorderen Drittel deiner Finger) in ruhigenkreisenden Bewegungen den gesamten Muskelbereich. Achte darauf, dass du nur im weichen Muskelgewebe bleibst und keinen direkten Druck auf knöcherne Strukturen ausübst. Den Druck bestimmt dabei dein Pferd, so wie es ihm angenehm ist.

Das Ganze natürlich auch wieder auf beiden Seiten. 😊💪

Achte auch hier darauf, ob sich der Muskel auf beiden Seiten gleich anfühlt und ob dein Pferd beidseits die gleiche Reaktion auf deine Massage zeigt.

Auch der Schläfenmuskel (M. temporalis) reagiert sehr dankbar auf eine Massage:

Du erkennst ihn leicht an den zwei „Beulen“ rechts und links auf der Stirn deines Pferdes. 

❓Ist der rechte und der linke Muskel gleich stark ausgeprägt oder erscheint dir eine Seite kleiner? Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass dein Pferd auf dieser Seite weniger kaut aufgrund von Zahnproblemen oder Kiefergelenksproblemen. Dann solltest du der Sache auf jeden Fall auf den Grund gehen. 🔎

👉Massieren kannst du den M. temporalis wieder mit ruhigen, kreisenden Bewegungen mit deinem Daumen mit dem Druck, den dein Pferd angenehm findet.

⚠️ Bei Pferden mit starker Durchtrittigkeit, chronischen Fesselträgerentzündungen und Nackenbandansatzproblemen (Verkalkungen, Teilabriss) solltest du sehr vorsichtig mit jeder Art von Lockerungsübungen sein. Diese Pferde brauchen oft ein gewisses Grad an Verspannung, um sich zu stabilisieren. Frage, wenn du unsicher bist, lieber deinen Therapeuten oder Tierarzt! ⚠️

Im Training

🏇 Arbeite dein Pferd nach der Abkauübung im Stand gerne in der Lösungsphase immer mal wieder in Halsaußenbiegung (geht in allen Gangarten). Dadurch öffnest du die innere Schulter und dein Pferd kann mit der inneren Vorhand leichter vorgreifen, was wiederum zu mehr Durchlässigkeit und vermehrter Hinterhandaktivität führt. So fällt es dir leichter, den Kopf/Hals/Schulterbereich locker zu halten und gleichzeitig die Hinterhand ein wenig mehr als Motor in die Pflicht zu nehmen. 

🤩 Mein Lob an dich

🐴Dein Pferd schüttelt sich, kaut oder gähnt nach der Massage, dem Abkauen oder den Dehnungen im Training? Super! 🎉 Dann haben sich Verspannungen gelöst und du hast eine erfolgreiche „Behandlung“ durchgeführt. GUT GEMACHT! 👏🥳

Also dann… 

Denke daran – ein entspanntes Kiefergelenk bedeutet mehr BeweglichkeitLeichtigkeit und Freude für dein Pferd. ❤️ 

Mit den hier vorgestellten Übungen und Tipps hast du wieder ein Puzzleteil mehr in der Hand, damit dein vierbeiniger bester Freund sein volles Potenzial entfalten kann. 🐴

Viel Spaß beim Abkauen! 🙂

Bis zum nächsten Artikel,

deine Jeanette

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